Liebe Annika,

 

es naht zum vierten Mal nach deinem Unfall der 22. März. Es wird der vierte Geburtstag von Dir und Mutti, den wir ohne Dich verbringen müssen. Ich kann mich immer schlechter daran erinnern, wie es war als dieser Tag noch ein schöner Tag für uns war, ein Tag auf den wir uns gefreut haben.

In den Wochen davor haben wir uns immer vorgenommen was zu suchen das wir Mutti schenken könnten. Wir wollten uns beide erstmal getrennt was überlegen und dann das schönste auswählen. Letztlich warst es aber sowieso immer Du, die die richtige Idee hatte. Zu Weihnachten war es dasselbe. Heute bin ich vor diesen Tagen alleine unterwegs und suche nach irgendwelchen Sachen die Mutti und Papa gefallen könnten. Was ich dann schließlich schenke ist nie auch nur halb so originell wie die Dinge die Dir eingefallen sind. Aber das schlimmste ist, dass es eigentlich auch völlig egal ist was ich schenke. Die Tage die die schönsten im Jahr sein sollten (und es ja auch immer waren), sind jetzt die schlimmsten. Wenn ich dann am 22. früh die Treppe runter komme, werde ich nicht wie früher Dir und Mutti zum Geburtstag gratulieren, sondern nur noch Mutti trösten können. Das einzige was ich für Dich noch tun kann, ist dir Blumen ans Grab zu bringen.

 

Viel lieber würde ich Dir beim Studium helfen, wo ich es irgendwie kann. Mittlerweile würdest Du wahrscheinlich an der TFH Wildau Europäisches Management studieren, hättest gerade das 3. Semester hinter Dir. Das ein oder andere Fach in Richtung Mathe oder Informatik steht auch im Studienplan. Dabei hätte ich Dir sicher wieder ein paar Mal helfen können, wie damals in der Schulzeit. Auch wenn ich es nie gezeigt habe - es hat mich gefreut und irgendwie auch stolz gemacht wenn ich Dir bei irgendwelchen Aufgaben weiterhelfen konnte (und es hat mich mächtig geärgert wenn ich es nicht konnte!).

Mutti hat mir (auch nach Deinem Unfall) oft erzählt, wie sehr Du Deinen „großen Bruder“ bewundert hast. Dabei warst Du es, die Bewunderung verdient hatte. Du warst immer ehrgeiziger und fleißiger als ich. Obwohl dir viele Dinge in der Schule nicht so zugefallen sind wie mir, hattest Du immer die besseren Zeugnisse. Du wusstest schon während der 11. Klasse genau worauf du hinarbeitest: Irgendwann wolltest du in der Tourismusbranche tätig sein, mit Arbeitsplatz in Spanien. Du hattest Dir schon den passenden Studiengang rausgesucht und Dir sogar selbst Spanisch beigebracht (gut genug um in unserem letzten Familienurlaub auf Mallorca kleinere Unterhaltungen mit Spaniern zu führen). Ich hätte nie den nötigen Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit für so etwas aufgebracht. In dieser Hinsicht warst und bist Du mir immer ein Vorbild.

 

 

Ich habe oft daran gedacht, dass es besser sein würde, wäre es umgedreht. Wenn ich bei einem Unfall gestorben wäre und Du noch leben würdest. Du konntest dem Leben immer mehr abgewinnen als ich. Auf jeden Lebensabschnitt hast Du Dich gefreut. Die Schule, das Studium - für mich waren und sind das nur notwendige Übel, für Dich hingegen Etappen auf dem Weg zu langfristig gesetzten Zielen. Und das waren längst nicht nur berufliche Ziele. Auch dass Du einmal heiraten und Kinder haben wirst stand für Dich fest. Du hast immer so optimistisch in die Zukunft gesehen... Bei Deiner Beerdigung haben wir "Der Weg" von Herbert Grönemeyer spielen lassen. An einer Stelle heißt es in dem Lied: "Hast ihn nie verraten, deinen Plan vom Glück". Diese Zeile trifft auf Dich mit Sicherheit zu.
Vielleicht wäre es auch für unsere Eltern leichter wenn Du diejenige wärst, die noch da ist - auch wenn sie dieser Aussage ganz sicher nicht zustimmen würden. Sie kümmern sich seit Deinem Tod sogar noch mehr um mich, als sie es ohnehin schon vorher taten. Und Du weißt ja, dass sie nie einen von uns beiden weniger lieb hatten als den anderen.

Und trotzdem: Du hast so viel Zeit vor allem mit Mutti verbracht. Hast ihr beim Kochen geholfen, beim Plätzchen und Kuchen backen oder warst einfach nur so bei ihr. Du warst ungern allein. Ich dagegen hatte nie Probleme damit mich alleine zu beschäftigen. Außerdem war sehr oft mein Kumpel Jens bei mir, ich bei ihm oder wir waren Fußball spielen. So habe ich viel weniger Zeit mit unseren Eltern verbracht als Du und es ist mit Sicherheit schwieriger für sie sich an Deine Abwesenheit zu gewöhnen, als müssten sie mit meiner leben. Auch weil Du ihnen eine viel größere Hilfe bei der Trauerbewältigung gewesen wärst. Ich habe nie wirklich tröstende Worte finden können oder mit Mutti weinen können. Mir liegen solche Sachen nicht. Ich rede selbst nie über meine Gefühle oder suche Trost bei anderen und kann deshalb anderen in dieser Hinsicht nicht helfen. Du warst ganz anders. Vor allem nach deinem Unfall hat mir Mutti oft davon erzählt, wie Du mit ihr über deine Sorgen geredet hast oder deinerseits versucht hast sie aufzubauen, wenn es ihr nicht gut ging. Nach deinem Tod und auch heute noch würde sie so nötig jemanden wie Dich brauchen. Aber diese Rolle kann ich nicht einnehmen.

Wir wurden nicht vor die Wahl gestellt wen von uns beiden es trifft. Und wir können nichts an dem Geschehenen ändern. Mutti, Papa und ich müssen mit der Situation klarkommen wie sie ist und seit dreieinhalb Jahren haben wir das auch irgendwie geschafft. Ich werde versuchen in Deinem Sinne zu handeln und meinen Teil dazu beitragen, dass unsere Familie an deiner Abwesenheit nicht kaputt geht.

 

Dein großer Bruder