Dieser Brief erreichte uns am 18.11.2005 zum 2. Todestag unserer Tochter Annika.

Wir veröffentlichen diesen Brief im Einverständnis mit dem Verfasser.

 

 

Sehr geehrte Familie Sperling,

mein Name ist Thomas Schulze. Ihre E-Mailadresse habe ich von Annikas Gedenkseite. Ich schreibe ihnen diese E-Mail, weil der heutige Tag, der 18.11., vor zwei Jahren ihr Leben, aber auch mein Leben entscheidend verändert hat ...

Bitte nehmen Sie sich die Zeit und lesen sie diese E-Mail in einer ruhigen Minute.

Ich bin 20 Jahre alt und wohne in Motzen - dort, wo sich ihre Tochter in den letzten Stunden ihres viel zu kurzen Lebens aufhielt. Ich bin einer der letzten Menschen, die das Glück hatte Annika kennenzulernen und ich möchte ihren 2. Todestag als Anlass nehmen, mir einige Gedanken von der Seele zu schreiben und Ihnen vielleicht auch einmal eine andere Sichtweise auf die auch für mich immer noch unfassbaren Dinge zu ermöglichen.

Ich ging im November 2003 in die 13. Klasse des Schillergymnasium in KW und hatte ebenso wie das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium 2 Ferientage. Da meine Eltern (ich habe selbst einen 2 Jahre älteren Bruder) verreist waren, lud ich ein paar Freunde ein um gemeinsam einen netten Abend zu verbringen. Da sich unter diesen Leuten auch Schüler aus Annika's Jahrgang befanden mit denen ich seit längerem befreundet war und sich Gordon und Doreen sich ebenso zu diesem Freundeskreis zählten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auftauchen würden, da es zu dieser Zeit arge Differenzen zwischen den einzelnen Personen gab und reichlich Gesprächsbedarf bestand. Ich weiß nicht mehr genau wann, aber ich vermute gegen 23 Uhr - trafen die 4 (also Annika, Doreen, Gordon und Markus) bei mir zu Hause ein. Zu dieser Zeit kannte ich nur Doreen etwas besser (ca. 2 Jahre), Gordon und Markus nur ganz flüchtig und Annika hab ich an diesem Abend das erste - und leider auch das letzte Mal gesehen. Aber an diesen Moment kann ich mich noch sehr genau erinnern: da ein Großteil der Gäste rauchte, standen sie draußen vor dem Haus. Ich hatte dieses über unsere Kellertreppe verlassen an deren Ende Annika stand. Etwas verwundert muss ich sie angeguckt haben, denn ich hatte nicht mitbekommen, dass die vier eingetroffen waren und kannte sie ja auch nicht.
Sie kam sofort auf mich zu und stellte sich vor. Sie machte dabei einen sehr korrekten Eindruck und war mir von Beginn an sehr sympathisch. Wir sprachen über den Streit zwischen Doreen und Eileen und ich fragte noch wo sie wohne usw. Irgendwer lenkte mich dann ab und ich meinte noch zu ihr, dass wir uns ja später weiter unterhalten könnten - dazu kam es leider nicht mehr, da Doreen und Gordon aufgrund des Streits wütend waren und nach Hause wollten.
Ich stand an der Straße als sie losfuhren - erst das Auto mit Miriam, Julia, Eileen usw. und ca. 1 Minute danach Markus mit Annika, Doreen und Gordon. Dabei habe ich auch mitbekommen, dass Gordon und Annika stritten, wer neben Markus sitzen dürfe. Mit durchdrehenden Reifen fuhr Markus los! Das habe ich so selbst gesehen. Ich ging in unseren Keller weil mir kalt war. Etwa 5 Minuten später kam meine damalige Freundin mit meinem klingelnden Handy in der Hand die Kellertreppe herunter gerannt (es lag im Erdgeschoss des Hauses für den Fall der Fälle, da im Keller kein Empfang ist). Ich sah, dass es Doreen war, wunderte mich bereits und nahm ab - ich werde dieses "Gespräch" nie mehr vergessen! Sie war vollkommen aufgelöst und brüllte in das Telefon. Ich verstand nicht viel mehr als die Worte Baum und Unfall, wusste ja, dass sie nach Bestensee gefahren sind und erst 5 Minuten weg waren. Dann ging alles blitzschnell, ich rannte zurück in den Keller, schaltete die Anlage aus informierte einige Freunde, die ihrerseits zur Straße rannten und Robert bescheid sagten, der gerade losfahren wollte. Ich selbst rannte in mein Zimmer, holte meinen Autoschlüssel und raste zusammen mit meiner Freundin ebenfalls los und überließ das Haus meinen Freunden. Ich erreichte den Unfallort ungefähr 30 Sekunden nach Robert. Wir stiegen sofort aus und mussten alles mit ansehen ... Diese Bilder habe ich seitdem jeden Tag in meinem Kopf! Überall Blut, die Schreie! Einfach unfassbar - die Hölle auf Erden! Robert und ich sicherten geistesgegenwärtig die Unfallstelle, Robert blieb danach bei Annika und ich kümmerte mich um die Verletzten, während sich die Mitfahrerin von Robert übergeben musste. Doreen's Hose war blutverschmiert, Gordon und Markus waren am Kopf und am Rücken verletzt. Gordon fragte mich immer wieder was passiert sei: als ich es ihm erklärt hatte fragte er erneut, während sich Markus nur nach seinem Auto erkundigte! Alle standen komplett unter Schock und haben auch heute nur schwache bis gar keine Erinnerungen an den Hergang. Und wir waren so hilflos! Dann irgendwann ging im nahen Motzen die Feuerwehrsirene los! Erst, als bis auf Annika alle schon in Sicherheit waren! Als dann nach ewigem Warten die Rettungsmannschaften eintrafen waren wir für's erste erleichtert in der Hoffnung, man könne ihr irgendwie helfen und alles würde gut gehen. Sie kamen aus allen Richtungen - genau 21 Einsatzwagen von Notarzt, Polizei und Feuerwehr! Aber es dauerte noch lange, bis sie Annika befreien konnten - zu lange! Ich legte mich dann noch mit den Notärzten an, sie sollten doch bei 21 Fahrzeugen die Verletzten schon ins Krankenhaus bringen (sie saßen bei diesen Temperaturen auf der Straße und froren!). Als sie Annika befreit hatten wurden wir weggeschickt.

Der weitere Verlauf ist mir nicht so gut in Erinnerung geblieben - die Bilder haben wohl auch bei mir einen Schockzustand ausgelöst. Ich weiß nur noch, dass inzwischen auch mein Bruder am Unfallort eingetroffen war und mich mit nach Hause nahm. Am nächsten Tag wollte ich natürlich wissen, wie es um Annika steht und habe Eileen angerufen, die unweit vom Krankenhaus wohnt. Nachmittags war ich dann bei ihr und sie erklärte mir, was passiert ist. Ich brach in Tränen aus - obwohl ich Annika nur aus einem 3-Minuten-Gespräch "kannte". Als ich im Krankenhaus die anderen besuchte war dort eine absolute Totenstille - nur Markus fragte, wie es seinem Auto ginge und ob man das Radio noch ausbauen könne, etc.! In diesem Moment hab ich mich umgedreht und hab ihn bis heute nie wieder gesehen! Für mich mindestens so unbegreiflich wie das Gerichtsurteil. Am Folgetag war ich die ersten beiden Stunden in der Schule - dann hielt ich es nicht mehr aus: ich fuhr zur Polizei um eine Zeugenaussage zu machen und den Ablauf vor und nach dem Unfall zu schildern. Dabei erfuhr ich dann von der Polizei weitere Details, z.B. das Ergebnis des Alkoholtests usw.. In den folgenden Tagen schien sich mein Leben wieder zu normalisieren und doch war alles anders. Da ich in der Folgezeit und bis heute jeden Tag am Unfallort vorbeifahre ist mir der Unfall und die Umstände die dazu führten immer im Gedächtnis geblieben und auch heute noch kommen mir die Tränen, wenn man sich bewusst wird wie sinnlos der Tod ihrer Tochter ist. Seit September bin ich Azubi bei Landkost in Bestensee, genau an der Kurve, die Annika das Leben kostete. Da von Seiten Markus' damals ausgesagt wurde, ein LKW habe ihn geblendet, habe ich für mich in Erfahrung bringen können, wie die Sichtweise der Firma Landkost damals auf diese Angelegenheit war. Ich kann die Umstände bis heute nicht begreifen, auch Freunde mit denen ich darüber geredet haben konnten mir nicht helfen. Doch je mehr ich über Annika's Schicksal nachdenke, umso mehr wird man sich bewusst, was das Leben wert ist und wie ungerecht es sein kann. Auch ich werde ihre Tochter nie vergessen - obwohl ich sie nur drei Minuten kannte!

Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen wenn ich wüsste, wie ich es könnte!
Über eine Antwort würde ich mich dennoch freuen.

Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute!

Mit freundlichen Grüßen

Thomas Schulze